Preisgedicht
Preisgedicht des Gerhard von Seeon
Am 6. Mai 1012, dem  39. Geburtstag des späteren Kaiser Heinrich II.,  wird  der erste Bamberger Dom von Johannes von Aquileja geweiht. Aus diesem Anlasse verfasst Abt Gerhard von Seeon ein Preisgedicht über Bamberg; auch das Lob des Bistumsgründers kommt nicht zu kurz:
Kaiser Heinrich bei der Pflugscharprobe



Kaiser Heinrich II. auf dem von Tilman Riemenschneider geschaffenen Hochgrab im Bamberger Dom. Er wird hier als Greis dargestellt, befand sich aber zur Domweihe 1012 wohl noch im Vollbesitz seiner Kräfte.
Iussor amande tuis pie rex Heinrice svbactis Liebenswerter Gebieter über deine Untertanen, frommer König Heinrich,
Gemma nitens regni * totius flos microcosmi * Glänzender Schmuckstein des   Reiches, Blume des ganzen Erdkreises,
Dante deo rutilans * fastigia summa gubernans * Strahlender von Gottes Gnade, Lenker auf höchsten Höhen,
Ad cuius nutum stat nostrum vivere tutum * Auf dessen Wink unser Leben sicher ruht,
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Suscipe perscriptum et præcipiente libellum * Nimm an diese Schrift, erstellt auf deine Weisung,
Plenum legiferis patrum fratrumque statutis * Voller Gesetzesbestimmungen der Väter und Brüder.
Quem tibi non tardus * mihi tardior abba gerhardus * Zwar nicht säumig, aber doch mir selbst zu säumig übergebe ich sie dir,   
Nomine non meritis * Seuuensis et altor ovilis Ich, Gerhard, dem Namen, aber nicht den Verdiensten entsprechend Abt von Seeon, [1]
Preisgedicht des Gerhard von Seeon (Anfang)
Die ersten zehn Verse des Preisgedichtes - photographischer Ausschnitt einer Ausstellungswand zu Heinrich II. im Kloster Seeon (Frühjahr 2002)
Exiguus tribuo magno pro munere voto * Und unbedeutender Hirte, als Geschenk nach großem Gelübde,
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Ut stillam roris stagnis miscendo marinis * Indem ich gleichsam einen Tautropfen mische mit Meeresfluten.
Pabunpergensis donanda cacumina sedis * Beschenkt sollen werden die Hügel des Bamberger Sitzes,
Cuius constructor fautor numeraris et ductor * Als dessen Erbauer, Förderer und Leiter du giltst.
Quae quasi præsago perlonga moramina signo * Bis endlich dein Name sich erhob, hat der Sitz unter dem Banner der Vorsehung
Tempus adusque tuum protraxit nominis ortum Sich  - wieder und wieder unterbrochen ­ verzögert.
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Nunc quia sceptri geras moderante potenter habenas * Jetzt, da du als Vater die Zügel des Szepters maßvoll und machtvoll hältst,
Te pater aecclesiæ matris mons pollet opime * Ist mächtig und stark der Berg der Mutter Kirche.
Regia iura serens * summo sub præsule degens * Königliches Recht spricht er und untersteht dem Bischof,
Virtutum studiis semper sudante beatis * Der stets sich müht in gesegnetem Eifer für die Tugend.
Cleris ac populis expendit pabula legis * Den Geistlichen und dem Volk wiegt er ab das Brot des Gesetzes.
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Haec iebusaicæ partem capit inclita doxae * Und weithin bekannt hat er Anteil am Ruhme Jerusalems,
Aucta salutiferi pretioso sanguine Christi * Genährt mit dem wertvollen Blut des heilbringenden Christus.
Condit et aureolis crucis alme fragmina thecis * Er birgt in goldenen Schreinen Bruchstücke des segenspendenden Kreuzes,
Arcem romanam se gestit habere coaequam * Er frohlockt, eine Burg zu besitzen ebenbürtig der römischen,
Archilegato dans prima cubilia Petro Da er gewährt zuerst eine Ruhestätte dem Petrus, dem obersten Apostel des Herrn,
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Plaudit et agiae loca ferre secunda Mariae Und begeistert ist er einen Platz zu bieten sodann der Heiligen Maria.
In medio magnum gaudet sustollere Iesum Und er freut sich in seiner Mitte Jesus, den Großen, in die Höhe zu erheben.
Estque domvs dominvs martyr Georgivs almvs Herr des Hauses ist der gütige Märtyrer Georg
Bamberger Dom im Winter

Der Bamberger Dom im Winter. Wie der 1012 eingeweihte Heinrichsdom besitzt auch der so genannte Ekbert-Dom zwei Chöre: links der Ostchor (Georgenchor), rechts hinter dem Querhaus der Westchor (Petruschor). Die in den Versen 24 (archilegato ... Petro) und 27 (domvs dominvs martyr Georgivs almvs) genannten Dompatrone wurden stets beibehalten.
Undique congestis solidis numero sine sanctis * Und von überall sammeln sich zahllos die unerschütterlichen Heiligen,
Quorum præsidio clarebit honoribus aevo * in deren Schutz es voll Ehren für ewig erhalten wird.
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In fundamentis redimitur * nunc quia tantis * Denn ruhend auf Fundamenten so groß,
Matribus ut priscis * sit filia maior opellis dass die Tochter größer ist als die ehrwürdigen Mütter,
Ornatus cuncti * quibus utitur area mundi* wird das Haus gekrönt von allen Arten schmückender Werke, die die Welt kennt.  
Non minus ista sephercariath cluet arte scienter * Nicht weniger gepriesen wird dieses Sepher Cariath [3] für die Wissenschaften.
Inferior stoicis nequaquam * maior athenis * Unterlegen keineswegs der Stoa und größer als Athen.
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In cuius laribus * gladium dat diva duabus In seinen Hallen reicht die göttliche Mutter das Schwert den beiden [2]  
Mater natabus * quo findant nexile corpus Töchtern, damit sie den festgefügten Leib teilen
Particulas per sex * quibus extat tertia iudex * in sechs Bereiche, für die als Richterin auftritt die dritte.
Partibus adiectis * et sic crescentibus offis * Fügt sich Teil an Teil und wachsen somit die Häppchen
Quadruvio mensas trivium proponit amicas * dem Quadrivium, so stellt freundliche Tische auf das Trivium.
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Quis mulcet pueros famosos nutrit ephebos Mit diesen stimmt es sanft seine Knaben und nährt seine bekannten jungen Männer
Pascit et almarum pastores aecclesiarum Und lässt gedeihen die Hirten der glückspendenden Kirchen,
Illustres vivi spargentes semina verbi * Männer, die erleuchtet die Samen des lebendigen Wortes säen.
In quibus ut firmis cernuntur stare columnis Auf ihnen sieht man das Haus ruhen wie auf starken Säulen.
Hic onus argenti collucet montibus auri Hier glänzt gewichtiges Silber mit Bergen von Gold
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Adduntur variis radiantia serica gemmis * Und dazu Seidenstoffe schimmernd von Edelsteinen aller Art.
Haec inopum fotrix ut magnorum dominatrix Hort der Armen und Herrscher über die Großen
Haec caput est orbis hic gloria conditur omnis Ist es, und Haupt des Erdkreises; hier wird jedweder Ruhm begründet.
Pro nihilo mæret dum te sude vincta cohæret * Für Trauer gibt es keinen Platz, solange es mit dir als Stützpfeiler fest verknüpft ist.
Principe te crescit semper semperque virescit * Unter deiner Regenschaft wächst das Haus stets und stets gedeiht es
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Floret * maturat * venturaque sæcula durat * Und blüht und reift und überdauert die Jahrhunderte, die da kommen werden.
Quid loquor ingenii balbosus somniculosi * Doch was schwatze ich, stammelnd und schlafestrunken,
Non maro cum lepidus * nec dicax posset homerus Da nicht der feinsinnige Vergil und nicht der wortgewaltige Homer imstande wären,
Texere multiplices laudabilis urbis honores Die vielfältigen Ehren der ruhmreichen Stadt in ein Gedicht zu verweben,
Horum si una potuisset surgere tanta * auch wenn sie - groß wie sie ist - zugleich für beide hätte entstehen können?

Transkription: Dr. Bernhard Steinhauf
Übertragung: Gregor Sedlmeir
Quelle:
MEYER, O. u. WEIDNER, W.: Kaiser Heinrichs Bamberg-Idol im Preislied des Gerhard von Seeon. In: Fränkische Blätter für Geschichtsforschung und Heimatpflege. Wissenschaftliche Beilage zur Heimatzeitung "Fränkischer Tag". Bamberg: Fränkischer Tag, 1951; Nr. 19, S. 75-78.
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Anmerkungen:
[1]
Seeon,  Ort im Chiemgau: Fotos
[2]
diva mater (göttliche Mutter) [V. 35/36]:  
Die göttliche Mutter ist die Wissenschaft, ihre beiden  Töchter sind die philosophische und die grammatische Vorbildung. Die als Richterin auftretende dritte Tochter ist die Theologie.
Vgl. MEYER, O. u. WEIDNER, W. (1951), S. 77, Anm. 3.



[3]
sephercariath (Sepher Cariath):  
Sepher Cariath ist eine alttestamentarische Stadt der Bücher in Kanaan. Durch diesen Vergleich soll die Bedeutung der neu gegründeten Domschule zum Ausdruck gebracht werden. Sie wurde mit vielen kostbaren Büchern ausgestattet und blieb lange Zeit für das ganze Reich bedeutsam.

Sepher Cariath wird in den biblischen Büchern Josua (15,15-19) und Richter (1,11-16) in gleich lautenden Texten angesprochen. Bei der Eroberung der kanaanitischen Stadt ging es nicht um die Bücher, sondern um Wasser und Brot:

Josua 15,15-19
15 Von dort zog er [Kaleb] hinauf zu den Einwohner von Debir. Debir hieß früher Kirjat-Sefer.
16 Und Kaleb sagte: Wer Kirjat-Sefer besiegt und einnimmt, dem gebe ich meine Tochter Achsa zur Frau.
17 Otniël, der Sohn des Kenas, ein Bruder Kalebs, nahm die Stadt ein, und Kaleb gab ihm seine Tochter Achsa zur Frau.
18 Als sie bei Otniël ankam, drängte er sie, von ihrem Vater ein Stück Land zu verlangen. Da ließ sie sich vom Esel herabgeleiten, und Kaleb fragte sie: Was hast du?
19 Sie antwortete: Gib mir ein Geschenk als Zeichen des Segens! Wenn du mich schon ins Trockenland schickst, dann gib mir auch Wasserstellen! Da gab er ihr die obere und die untere Wasserquelle.
(Zitat: Einheitsübersetzung des Alten und Neuen Testamentes)

Aus Josua 15,48 ist zu entnehmen, dass Kirjat-Sefer (Stadt der Bücher) zu dem Erbbesitz des Stammes Juda zählte, im Gebirge lag und auch den Namen Kirjat-Sanna (Stadt der Palmen) trug. Die Stadt lässt sich heute nicht mehr genau lokalisieren, lag aber wohl etwa 15 km südwestlich von Hebron an der Grenze zur Wüste Negev.
Quelle:
BEYERLE, S.: Othniel. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band VI (1993), Spalten 1336-1339. Herzberg: Verlag Traugott Bautz, 1993. http://www.bautz.de/bbkl/o/othniel.shtml